Foto © Monika Leitner

„Stillen stärken - informieren und begleiten“

03.10.-09.10.2022

 „Das habe ich mir anders vorgestellt – Stillen war für mich alles andere als wundervoll. Die Schmerzen, die Milchpumpe, die immer wiederkehrenden Milchstaus und Brustentzündungen. Jetzt bei meinem zweiten Kind ist das eine völlig neue und schöne Erfahrung dank professioneller Hilfe schon in der Schwangerschaft.“
 

Jährlich in der 40. Kalenderwoche findet die Weltstillwoche statt - 40 Wochen, so lange dauert eine Schwangerschaft.

Das diesjährige Motto „Stillen stärken – informieren und begleiten“ bietet sich dabei wunderbar an, um auf die Tätigkeit, die Ziele und Aufgaben des Verbands der Still- und Laktationsberaterinnen IBCLC Südtirol und dessen Mitglieder aufmerksam zu machen. 

Seit gut 20 Jahren gibt es unseren Verband und uns liegt die Aufgabe, Mutter, Vater und Kind zu begleiten und zu unterstützen, sehr am Herzen. Des weiteren ist es uns wichtig die Berufsgruppen, welche mit den Familien arbeiten, auf den neuesten Stand zu bringen um eine bestmögliche, evidenzbasierte Betreuung garantieren zu können.

 

Doch wie war das vor ungefähr hundert Jahren? Was wussten die Frauen damals über das Stillen? Welche Meinungen und Vorurteile gab es zur Säuglingsernährung? Blickt man auf die Geschichte des Stillens zurück, hat sich die Einstellung zum Stillen über die Jahrhunderte und Jahrzehnte immer wieder verändert. Wir haben uns in unserem Umfeld umgehört und haben Frauen aus verschiedenen Generationen interviewt.

Berta H., Jahrgang 1928, erzählt uns, dass ihre beiden Kinder in den 50er Jahren im Grieser Hof in Bozen zur Welt kamen. Dort gab es bereits Einzelzimmer, die Kinder durften bei ihr bleiben, man konnte sie jedoch auch abgeben. Die Hebammen unterstützen auch das Stillen. „Mein Mann hielt jedoch nichts vom Stillen, denn er meinte, dann würden ich zu viel „hängen“. Zusätzlich erkrankte ich bald am Wochenbettfieber und die Milch war dann weg. Ich hätte gerne gestillt. Meine Tochter hatte da dann keine Probleme und konnte drei Kinder voll stillen.“ so Berta H, heute 93 Jahre. Aus Studien weiß man, dass das soziale Umfeld, die Familie und vor allem die Einstellung und Unterstützung des Kindsvaters bedeutsam für die Stillentscheidung der Mutter sind. Maria O., aus Bozen, hat ihre Kinder Anfang der 90er Jahre im Bozner Krankenhaus bekommen. Damals gab es noch kein Rooming-in, bei dem das Baby-Bettchen praktisch rund um die Uhr gleich neben dem Bett der Mutter steht, die Kinder wurden einem in regelmäßigen Zeitabschnitten für eine gewisse Zeit ins Zimmer gebracht und einem an die Brust zum Stillen gelegt. Anschließend wurden alle Neugeborenen wieder eingesammelt und die hungrigen Babys bekamen noch die Flasche. Heute weiß man, dass  Rooming-in, viel Nähe, Hautkontakt und Stillen nach Bedarf für die Milchbildung und den Stillerfolg entscheidend sind. „Ich hatte zu wenig Milch, meine Tochter schrie nur. Außerhalb des Krankenhauses wusste ich nicht, wo ich mir Hilfe holen könnte. Ich fühlte mich alleine, irgendwann meinte meine Mutter gib ihr doch die Flasche, die hat Hunger.“

Das Stillen eines Kindes ist wie auch andere Phänomene rund um die Geburt stark kulturell geprägt und geschichtlichen sowie sozialen Strömungen unterworfen.

Die Ursprünge der medizinisch geprägten Stillbewegung liegen in der Wende zum 20. Jahrhundert und sind eng mit der Entwicklung der Pädiatrie verknüpft. Nach einem eher schicksalhaften Umgang mit Überleben und Sterben von Säuglingen - gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten in Europa ca. 20% eines Jahrgangs ihren ersten Geburtstag nicht -  wurde die Ernährung und insbesondere das Stillen als ein Hauptpfeiler des Überlebens von Säuglingen identifiziert.

In den vergangenen Jahren hat sich das Wissen und die Forschung zu dem Thema vervielfacht. Deutlich wird daran, dass Stillen und Muttermilch als Themen so komplex, umfassend und vielfältig sind, wie das Leben selbst.

In Südtirol gab es die erste Möglichkeit der Spezialisierung seitens medizinischen Fachpersonals zur Still- und Laktationsberaterin IBCLC (international board certified lactation consultant) im Jahr 2001. 27 hochmotivierte nach Stillwissen hungernde Fachfrauen aus den unterschiedlichsten Strukturen und Gebieten folgten der Einladung zu dieser Fortbildung, legten das internationale Examen ab und gründeten daraufhin den Landesverband. In diesem organisieren sie seit nunmehr über 20 Jahren als Ärtzinnen, Hebammen, Kranken- und Kinderkrankenpflegerinnen, Sanitätsassistentinnen und Physiotherapeutinnen Fort-, Aus-, Weiterbildungen und Seminare für Fachpersonal, Fachtagungen mit internationalen Referenten, online und vor Ort. Sie arbeiten in den unterschiedlichen Krankenhäusern, Sprengeln, Mütterberatungseinrichtungen, ELKIs, Geburtsvorbereitungskursen, freien Praxen und vieler Orts mehr. Sie sind auf der homepage www.stillen.it für alle Eltern – Kind – Paare gut findbar.

In der heutigen Zeit und in unserer Gesellschaft gilt das Stillen als das Natürlichste der Welt, es wird beinahe glorifiziert, es muss funktionieren, es muss ja so toll sein, alle Frauen stillen. 

Aus unserem Beratungskontext wissen wir jedoch, dass dies nicht das Erleben aller Frauen/Mütter ist bzw. nicht in jedem Moment so sein muss. Es ist ein Weg, den man geht, der auch so manche Hürden bereithalten kann. Stillen hat viele Facetten, wie es wahrgenommen wird. Alles kann und darf sein.

Diese Erwartungshaltung sowie der Drang nach Perfektion in unserer Gesellschaft löst bei manchen Frauen und Müttern Druck und auch Schuldgefühle aus. 

Stillen ist natürlich - aber nicht immer einfach. Deshalb beraten wir vom VSLS sie gerne, wenn Sie …

- …bereits in der Schwangerschaft ein Stillvorbereitungsgespräch oder Stillaufarbeitungsgespräch wünschen

- … mit dem Stillen beginnen

- … Fragen zur Muttermilch-Ernährung, Ernährung des nicht gestillten Kindes und Beikost haben

- … bei Schwierigkeiten wie korrektes Anlegen, Schmerzen, wunde Brustwarzen

- … Fragen zum Pumpen und Aufbewahrung der Muttermilch haben

- … Zwillinge, Kinder mit Beeinträchtigung, Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte stillen

- … Sorgen oder Bedenken haben

- ... Fragen zur Aufrechterhaltung des Stillens bei Trennung vom Kind, bei Erkrankung der Mutter und Einnahme von Medikamenten

- … wieder arbeiten gehen

- … abstillen möchten

- … nicht stillen wollen, können oder dürfen

 

Abschließend eignet sich eine Metapher von Gabriele Nindl zur heurigen Weltstillwoche. Gabriele Nindl, eine Pionierin der Stillberatung im deutschsprachigen Raum, beschreibt Stillen als einen Paartanz, als „Teamwork“. Es kann sein, dass zwischen Mutter und Kind der Rhythmus gleich stimmt und es fließt. Es kann aber auch sein, dass man sich anfangs oder auch im Laufe der Zeit auf die Füße steigt und man sich „Tanzstunden“ nehmen muss, bis man einen gemeinsamen Rhythmus gefunden hat und es fließt. Und welche Rolle haben die Väter beim Stillen? Eine entscheidende Rolle, wie bereits oben erwähnt, auch wenn sie nicht unmittelbar selbst stillen. Viel Nähe und Hautkontakt ist für die Vater-Kind Bindung ebenso wichtig. Sie können ihre Frauen unterstützen, im Wochenbett sich um Mahlzeiten und Haushalt kümmern und eine gute Atmosphäre schaffen. Wir möchten die Mütter beim gemeinsamen Kennenlernen darin bestärken, dass man den Blick, wie es so gerne passiert, nicht nur auf das eigene Baby, sondern auch auf sich selbst richtet,  auf die eigenen Gefühle und Stimmungen. In herausfordernden Situationen darf/soll man sich Unterstützung holen. Häufig können so in der Stillberatung Triggersituationen/Schwierigkeiten aufgearbeitet und aufgelöst werden.

Stillen ist die natürliche Ernährung des Säuglings und mehr noch, Stillen ist Nähe, Geborgenheit, Sicherheit und Gesundheit für Mutter und Kind. Stillen soll in unserer hoch entwickelten Kultur selbstverständliche Unterstützung erfahren. Stillen ist besonders, denn jedes Mutter-Kind Paar ist besonders.

 

Text von: Sabrina Priller und Evelyn Mayr
Veröffentlicht in der FiS - Familie in Südtirol - Oktoberausgabe 2022