Wie wir geboren werden
Italienweit gibt es Geburtshäuser. Nur nicht in Südtirol. Einer der Missstände, den die Mütterinitiative Südtirol mit ihrer Petition für eine respektvolle, sichere und selbstbestimmte Geburt anprangern und beseitigen will, denn es ist eine berechtigte Frage: Ist das Krankenhaus wirklich der einzig richtige und sicherste Ort, um ein Kind zur Welt zu bringen?
Zahlreiche Experten und Studien beantworten diese Frage mit einem Nein. Die NICE-Guideline, eine international anerkannte Leitlinie, zeigt, dass die hebammenbegleitete, außerklinische Geburt für gesunde Schwangere am sichersten ist. Dazu gehören mindestens 85% aller Frauen. Auch in Südtirol. Untersuchungen belegen, dass es möglich ist, Interventionen auch bei Erst- und Mehrgebärenden drastisch zu reduzieren und zwar bei gleichbleibender Mütter- und Kindersterblichkeit. Trotzdem führt für 99% der Frauen der logische Weg zur Geburt ins Krankenhaus, so auch für Eleonora Seidner von der Mütterinitiative Südtirol. „Über andere Optionen habe ich in meiner ersten Schwangerschaft gar nicht nachgedacht“, berichtet sie. Was sie dort erlebte wird Interventionskaskade genannt. An den Folgen leidet sie noch heute.
"Die Geburt verändert dich als Mensch. Es ist ein einschneidendes Erlebnis für eine Frau."
Der zweiten Geburt blickte sie nicht so sorglos entgegen. „Ein Krankenhaus kam für mich aufgrund meiner Erfahrungen erst einmal nicht mehr in Frage. Wir entschieden uns für ein Geburtshaus, das es aber, wie mein Mann und ich feststellen mussten, hier in Südtirol gar nicht gibt.“ Dabei zählt die NICE-Guideline Geburtshäuser zu den wichtigsten Faktoren für die Qualitätssicherung in der Geburtshilfe: Der Staat stellt die Nutzung aller vier Geburtsmodelle sicher (Hausgeburt, Geburtshaus beziehungsweise freistehend hebammengeführter Kreissaal, hebammengeführter und ärztlich geführte Geburtshilfe im Krankenhaus). Frauen sollen in ihrer Gebärfähigkeit und in ihrem Wahlrecht des Geburtsortes bestärkt werden. Jedes Geburtsmodell stellt eine 1:1-Betreuung sicher. Die Frauen sollen ergebnisoffen über alle Geburtsmodelle informiert werden und können sich frei entscheiden. Die individuelle Entscheidung soll respektiert und unterstützt werden. Die Geburtshelfenden aller vier Modelle wertschätzen sich gegenseitig und arbeiten Hand in Hand.
Davon können Südtirolerinnen bislang nur träumen. Die Mütterinitiative will darauf aufmerksam machen, wie vielfältig die Möglichkeiten für eine sichere und selbstbestimmte Geburt sein könnten und Frauen motivieren, diese Wahlmöglichkeiten auch einzufordern. Sie will werdenden Müttern Mut machen, sich ihrer ureigenen Stärke bewusst zu werden und Gegebenheiten auch zu hinterfragen. „Viele Frauen haben sehr positive Geburtserlebnisse im Krankenhaus, doch auch über negative Erfahrungen und Gewalt während der Geburt muss gesprochen werden“, unterstreichen Verena Parschalk, Miriam Schaiter und Eleonora Seidner. „Viele von uns haben es selbst erlebt und zahlreiche an uns gesendete Geburtsberichte schildern Geringschätzung und Gewalterfahrungen.“
Ausgeliefert und unter Druck gesetzt
Die Ursachen sind vielfältig. Fehlendes Personal, Zeitmangel und strukturelle Probleme spielen eine große Rolle. Wer Diskussionen, Dokumentationen, Erfahrungs- und Presseberichte rund um Geburt analysiert, findet bald einen gemeinsamen Nenner: Gebärende fühlen sich nicht wahrgenommen, sie fühlen sich machtlos, ausgeliefert, unter Druck gesetzt und sehr oft können sie nicht nachvollziehen, welche medizinischen Interventionen tatsächlich notwendig sind und welche nicht.
Der Sinn, eine gesunde, werdende Mutter mit Wehenschreiber um den Bauch und Zugang im Arm in Rückenlage auf ein Bett zu legen, müsse sich erst erschließen, meinen die Vertreterinnen der Mütterinitiative. Schließlich wisse man inzwischen sehr gut, welche Bedingungen Frauen eine Geburt erleichtern. Der Film „Die sichere Geburt – Wozu Hebammen“ von Carola Hauck, den die Mütterinitiative nach Südtirol geholt hat, will dieses Wissen an werdende Eltern vermitteln. Auch die Hebammen, die sich gleichermaßen für eine selbstbestimmte Geburt einsetzen und großes Engagement zeigen, stoßen immer wieder an ihre Grenzen und vor allem an jene des Systems, in dem sie arbeiten.
Freude sollte im Vordergrund stehen
„Die Hebamme ist die kompetenteste Person für die gesunde Schwangere“, betont der Frauenarzt Volker Korbei im Film. Die Dokumentation unterstreicht eines der größten Risiken für gebärende Frauen. Es ist die eigene Angst. Strategien, den Frauen diese Angst zu nehmen gäbe es viele, doch „anstatt Frauen zu stärken, werden sie regelrecht in diese Angstmaschinerie hineingezogen“, bedauert Verena Parschalk. „Stress schließt den Körper. Er steht am Anfang aller Pathologien, auch in der Geburtshilfe“, erklärt Hebamme Verena Schmid im Gespräch mit Hauck. „Wo ist die Zeit der guten Hoffnung geblieben“, fragt sich Miriam Schaiter.
"Wie wir geboren werden ist nicht egal"
Viele Frauen sehen sich mit Normen und Zeitvorgaben konfrontiert, denen sie und ihr ungeborenes Kind nicht gerecht werden können. Eine Geburt könne 20 Minuten aber auch eine ganze Woche dauern. Beides und auch alles, was dazwischenliegt sei normal, wie die Hebamme und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Ina May Gaskin betont. „In einem medizinischen System, das auf Effizienz ausgerichtet ist, ist ein klar gesetzter Geburtstermin per Kaiserschnitt aber leichter zu organisieren, als ein nur vage absehbarer Geburtsverlauf bei einer Vaginalgeburt“, erklärt der Kinderarzt Herbert Renz-Polster die steigenden Kaiserschnittraten. In Italien kommen mittlerweile 38 Prozent der Babys auf dem OP-Tisch zur Welt. In Südtirol sind es nur 25%. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht dennoch davon aus, dass sehr viele Eingriffe ohne medizinische Notwendigkeit stattfinden. Die Medizinhistorikerin Barbara Duden spricht von einer dreifachen Beschleunigung der Gebärarbeit in den letzten vier Jahrzehnten. Das heißt, die „normale Geburt“ wurde um ein Drittel gekürzt.
Wenn alles anders kommt…
Verena Parschalk gehört auch zu den Frauen, die wissen, wie es sich anfühlt, wenn eine Intervention der anderen folgt und es schließlich zum Kaiserschnitt kommt. Wie ihr zweites und drittes Kind zur Welt kommen sollten? Darüber herrschte Uneinigkeit unter den Ärzten. „Was für den einen selbstverständlich schien, war für den anderen schlicht undenkbar!“ Dass Ärzte unterschiedliche Erfahrungen und Meinungen mitbringen, ist verständlich. Wird aber das Hinterfragen von Maßnahmen leichtfertig mit „Sie wollen doch nicht, dass Ihrem Kind etwas passiert“ unterbunden, so ist das problematisch. Eleonora Seidner traf bei jeder Untersuchung im Krankenhaus auf einen anderen Arzt. Sie nimmt es mit Humor, wenn sie erzählt: „Wenn ich schon nicht wusste, welcher davon bei der Geburt im Dienst sein würde, hatte ich wenigstens einige der Möglichen kennen gelernt.“
Als zusätzliche Unterstützung haben sowohl sie, als auch Parschalk eine Begleithebamme gewählt. Ob diese auch wirklich im Kreissaal dabei sein könnten, war nicht immer klar. „Als mir dann gesagt wurde, ich müsse mich zwischen meinem Partner und meiner Hebamme als Begleitung entscheiden, habe ich den Entschluss gefasst, mein Kind in Trient auf die Welt zubringen“, erzählt Parschalk. Mittlerweile konnten sich die Hebammen und Frauen in diesem Punkt durchsetzen. Jedoch dürfen freiberufliche Hebammen eine Geburt im Krankenhaus nicht leiten. Auch bei den Räumlichkeiten seien Verbesserungen notwendig. In den ersten Momenten des Kennenlernens brauchen Frauen und ihre Neugeborenen mehr Privatsphäre.
Kontinuierliche und liebevolle Unterstützung
Wir wissen: Je weniger eine Gebärende individuell von einer Hebamme (oder Doula) betreut werden kann, desto höher die Interventionsrate. Wenn sich eine Frau gut aufgehoben und unterstützt fühlt, kann ihre Erfahrung auch dann positiv sein, wenn die Geburt ganz anders verläuft, als erwartet. Miriam Schaiter und ihr Partner haben sich für eine Hausgeburt entschieden, für ein vertrautes, klinikfernes Umfeld und vor allem für die fürsorgliche Betreuung durch die Hebamme ihres Vertrauens. Auch eine Doula, eine nichtmedizinische Geburtshelferin, stand ihr zur Seite. „Es war ein schönes Gefühl zu wissen, dass da jemand ist, den ich anrufen kann, der vor und nach der Geburt auch emotional für mich da war und nach mir gesehen hat. Jeder Cent, den wir in diese Geburtsbegleitung investiert haben, war Gold wert.“ Natürlich war es auch bei Schaiter ein Weg durch die Geburt, mit all seinen Höhen und Tiefen.
"Qualität in der Geburtshilfe ist die beste Investition in die Zukunft."
Etwa 2.500 Euro kostet eine Hausgeburt in Südtirol, wovon nur 516 Euro rückerstattet werden. In Trient sind es etwa 1000 Euro. Wie ein Kind auf die Welt kommt, ist in Südtirol also durchaus eine Kostenfrage und wird das Problem der Haftpflichtversicherung der Hebammen nicht gelöst, steht auch diese Wahlmöglichkeit auf der Kippe. „Qualitätssicherung in der Geburtshilfe ist Investition in die Zukunft“, betont die Mütterinitiative. „Es ist der Start ins Leben. Etwas Wichtigeres als das gibt es nicht. Wie wir geboren werden ist nicht egal."
Die Petition der Mütterinitiative Südtirol für eine sichere und selbstbestimmte Geburt läuft noch bis zum 3. Oktober 2019!
Alle detaillierten Forderungen finden Sie hier: www.meinegeburt.org
Die Forderungen der Mütterinitiative Südtirol
- Eine flächendeckende persönliche und respektvolle Begleitung durch eine Hebamme während der Schwangerschaft, bei der Geburt, im Wochenbett und darüber hinaus.
- Die Wahlfreiheit der Frau bezüglich der Hebamme und des Geburtsortes. Die Kostengleichstellung der Hausgeburt und die Etablierung von Geburtshäusern.
- Die strukturelle Verbesserung von Krankenhäusern. Die Schaffung von Aufenthaltsmöglichkeiten zusätzlich zu den Kreissälen, höhere Personalschlüssel und die Anerkennung von Begleithebammen und Doulas.
- Die Umsetzung der WHO-Empfehlungen zur „Vermeidung und Beseitigung von Geringschätzung und Misshandlung bei Geburten“.
- Die alsbaldige Realisierung zum Schutz der Frau, ihres Kindes, des Partners oder der Partnerin sowie des Personals in der Geburtshilfe vor physischer, psychischer und struktureller Gewalt.
Mütterinitiative/vvm
Zuerst erschienen in:
FiS - Familie in Südtirol Nr. 3/2019