Ein Gespräch mit Julia Ellemunter, Psychologin und Koordinatorin im Haus der geschützten Wohnungen des KFS in Bozen.
58 Prozent der 87.000 weiblichen Mordopfer weltweit wurden vom Lebenspartner oder Familienmitgliedern in den eigenen vier Wänden ermordet, wie die aktuelle Femizid-Studie der UN-Abteilung für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) aufzeigt. Von Menschen also, denen sie unter normalen Umständen das größte Vertrauen entgegenbringen würden, an Orten, die ihnen Zuflucht sein sollten. Die meisten dieser Frauenmorde geschehen nicht plötzlich und unvorhergesehen, sondern sind tragisches Ende einer ganzen Reihe von Vorfällen häuslicher Gewalt. Auch in Südtirol schloss das Jahr 2018 mit einer traurigen Bilanz: Fünf Frauen wurden getötet. Oft ist das Muster bereits vorgezeichnet. Es aufzubrechen ist für die betroffenen Frauen ein schwieriger Schritt. Unterstützung und Zuflucht finden sie unter anderem im Haus der geschützten Wohnungen des Katholischen Familienverbandes (KFS) in Bozen.
FiS: Frau Ellemunter, Sie koordinieren als Psychologin seit 2016 die Tätigkeiten im Haus der geschützten Wohnungen. Warum ist es oft ein so langer Weg, bis eine Frau Hilfe sucht?
Julia Ellemunter: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt alle Arten und Häufigkeiten von Gewalt und jede Frau bringt ihre eigene Geschichte mit. Wir können wirklich keine Situation mit der anderen vergleichen. Häusliche Gewalt durch den Ehemann oder Lebensgefährten ist noch immer ein Tabuthema. Viele sprechen bei uns im Haus das erste Mal über ihre Situation oder auch darüber, was die Kinder haben miterleben müssen. Dabei kommen starke Schuld- und Schamgefühle auf. Unsere erste Aufgabe ist es, die Frau zu bestärken, dass sie keine Schuld trifft und sie mit ihrer Entscheidung, sich und die Kinder zu schützen, schon viel erreicht hat. Nicht in allen Fällen, aber doch in der Regel, ist die Beziehung zum Täter aus Liebe entstanden. Meist ist es der Vater der Kinder und die Gewalt hat sich schleichend eingebürgert. Das hindert die Frauen oft lange daran, die Tatsachen wahrzuhaben und schließlich auch zu handeln.
FiS: Wie sieht das tägliche Leben im Frauenhaus aus?
Ellemunter: Im Haus der geschützten Wohnungen verfügen wir über sieben Wohneinheiten in denen Frauen und ihre Kinder für bis zu sechs Monate Zuflucht finden. Im vergangenen Jahr haben wir 20 Frauen und 26 Kinder aufgenommen. Die Frauen leben hier einen ganz normalen Alltag. Sie bringen die Kinder zur Schule oder in den Kindergarten und gehen zur Arbeit. Das Wichtigste ist, dass die Frauen zur Ruhe kommen, in Sicherheit sind und dann mit unserer Unterstützung überlegen, wie es weitergehen soll und wie sie ihr Leben gestalten wollen. Wir bieten psychologische Gespräche und Gruppenstunden an, wo sich die Frauen auch untereinander austauschen können und sehen, dass sie nicht allein sind. Wir versuchen sie auf dem Weg in die Unabhängigkeit zu stärken und das Selbstwertgefühl wieder aufzubauen. Ziel ist es schlussendlich eine eigene Wohnung zu finden.
FiS: Wie gestaltet sich die Aufnahme? Wie finden die Frauen zu euch?
Ellemunter: Es gibt Frauen, die eine jahrelange Gewaltgeschichte hinter sich haben und durch Bekannte oder Sensibilisierungsaktionen auf die Frauenhäuser aufmerksam werden. Andere informieren sich bei uns, bleiben dann zwar doch noch in der Beziehung, haben aber das Wissen um unsere Hilfsangebote mitgenommen. Für uns haben der Schutz der Frau und die umfassende Information Priorität. Anfragen können jederzeit an uns gestellt werden. Während des Wochenendes wird der Telefondienst von Ehrenamtlichen abgedeckt. Es gibt ein Vorgespräch, in dem wir schauen, was die Betroffene braucht. Wir erklären, was genau ein Frauenhaus ist und wie wir arbeiten. Es ist eine neue Umgebung, es sind dort neue Personen, es ist ein anderer Rahmen – auch wenn die Frauen dort in einer eigenen Wohnung leben. Es gibt die Sicherheitsvorkehrungen. Die Adresse des Hauses der geschützten Wohnungen des KFS ist geheim. Dritte haben keinen Zugang. Manche Frauen müssen aus Sicherheitsgründen aus einem anderen Landesteil hierherkommen und sich auch in eine neue Stadt einleben, die Kinder kommen an eine neue Schule.
FiS: Und wenn es wirklich schnell gehen muss und eine Frau auf der Stelle flüchten muss?
Ellemunter: Es gibt auch Notaufnahmen. Dann kommen Frauen direkt aus der Gewaltsituation zu uns. Sie flüchten, wenn der Partner gerade nicht zu Hause ist und stehen manchmal wirklich mit nichts vor der Tür. Andere kommen nach der Schule oder direkt nach der Arbeit ins Haus. Wir können in den ersten Tagen Kleidung organisieren, Lebensmittel und auch Schulunterlagen für die Kinder. Dann muss man schauen, dass die Frauen ihre Sachen und Dokumente von Zuhause holen können – auch mit Unterstützung der Polizei. Bei rechtlichen Fragen greifen wir auf die Unterstützung der Rechtsanwältinnen der Initiative „Frauen helfen Frauen“ zurück. Im Rahmen einer kostenlosen Rechtsberatung können die betroffenen Frauen dort erste Unsicherheiten klären, bevor sie eine Entscheidung treffen.
FiS: Fallen Ihnen demographische Unterschiede, was Gewalt an Frauen betrifft auf?
Ellemunter: Es ist tatsächlich so, dass die Mehrzahl der Frauen, die zu uns kommen eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt. Das heißt aber nicht, dass es unter Südtirolern weniger Gewalt gäbe, das auf keinen Fall. Man nimmt an, dass hiesige Frauen ein stärkeres soziales Netz haben. Wir wissen aber auch, dass viele gewalttätige Übergriffe gar nicht gemeldet werden. Die Dunkelziffer ist hoch, deshalb lässt sich oft keine genaue Aussage treffen.
FiS: Die meisten Frauen, die zu Ihnen kommen sind Mütter. Wie erleben denn die Kinder den Aufenthalt?
Ellemunter: Am Anfang tun sich die Kinder manchmal schwer mit der neuen Umgebung. Seit einiger Zeit haben wir deshalb eine Psychologin bei uns, die sich nur um die Kinder kümmert und den Müttern zur Seite steht. Es gibt ein eigenes Spielzimmer und wir organisieren Aktivitäten, wie gemeinsame Bastelnachmittage. Im Haus der geschützten Wohnungen leben Kinder aller Altersstufen, vom Säugling bis zum Jugendlichen. Ihnen muss auf altersgerechter Ebene erklärt werden, warum sie nun hier wohnen, welche Regeln es gibt, etwa dass sie ihren Aufenthaltsort niemandem verraten dürfen und leider auch keine Freunde einladen können. Nicht nur die Frauen, auch die Kinder waren schlimmen Situationen ausgesetzt - sei es durch direkte Gewalt, als auch durch miterlebte Gewalt. Was Kinder daheim miterleben, mithören, mitsehen hat Auswirkungen. Vieles muss erst langsam aufgearbeitet werden.
FiS: Mit welchen Formen von Gewalt sind die Frauen konfrontiert?
Ellemunter: Es ist selten, dass Frauen nur eine Form von Gewalt erlebt haben. Häufiger ist es eine Kombination aus physischer, psychischer, sexueller und ökonomischer Gewalt. Es gibt Bedrohungen, Kontrolle und Einschränkungen aller Art. Schläge, Vergewaltigungen, verbale Erniedrigungen. Manchen Frauen wurde verboten, das Haus zu verlassen, der Kontakt zu Freunden, Bekannten, Angehörigen wurde unterbunden. Auch das ist Gewalt. Es ist nicht immer nur die physische Komponente.
FiS: Schaffen die Frauen schließlich den Schritt in die Unabhängigkeit?
Ellemunter: Ja, das muss man schon sagen. Der Großteil findet ihren Weg. Ein Problem mit dem wir aber zu kämpfen haben ist die Wohnungsnot. 2018 hatten wir viele Anfragen, aber oft keine Wohnungen frei. Die Frauenhäuser im ganzen Land waren voll. Das liegt auch daran, dass es für die Frauen, die aus dem Haus der geschützten Wohnungen ausziehen wollen, sehr schwer geworden ist, eine neue Bleibe zu finden. Die eigene Wohnung ist ein wichtiger Baustein, den die Frauen für ein autonomes Leben mit ihren Kindern brauchen. Dieser Baustein ist momentan leider rar.
FiS: Welche Veränderungen würden Sie sich außerdem wünschen? Was braucht es noch?
Ellemunter: Was ich mir wünsche ist, dass mehr Frauen den Mut finden, Informationen einzuholen und sich an jemanden zu wenden. In Gewaltsituationen ist es schwierig, den Hörer zu nehmen und irgendwo anzurufen, weil die Scham und Angst groß sind. Bei uns ist alles anonym, unverbindlich und kostenlos und oft ist es schon die reine Information, die der Frau beim nächsten Mal hilft. Dass eine Mutter mit mehreren Kindern nicht einfach ins Ungewisse gehen kann, ist ganz klar. Ich wünsche mir, dass mehr Frauen, das Wissen erhalten, dass es Menschen gibt, an die sie sich wenden können. Das müssen nicht in erster Linie die Frauenhäuser sein. Familienangehörige, aufmerksame Nachbarn oder auch der Hausarzt können Ansprechpersonen sein.
FiS: Gibt es Schicksale, die Sie besonders beeindruckt haben?
Ellemunter: Es gibt Frauen, die wirklich bei null anfangen müssen. Da gibt es Sprachbarrieren. Da fehlt ein soziales Netzwerk, weil sie Bekanntschaften nicht pflegen durften, isoliert wurden. Sie sind wirklich alleine und entscheiden sich dazu mit ihren Kindern wegzugehen. Wie sie es dann in diesen sechs Monaten bei uns schaffen, die Sprache zu lernen, sodass sie auch Büro- und Behördengänge alleine meistern können, eine Arbeit zu finden und schließlich eine eigene Wohnung, das ist beeindruckend und anzuerkennen. Das ist ein schwieriger Weg. Es ist schön zu sehen, dass man das auch erreichen kann, wenn der Wille dahinter ist.
Vielen Dank für das Gespräch
Valeria von Miller
Anlaufstellen in ganz Südtirol:
Frauen in Gewaltsituationen können sich in Südtirol an fünf Frauenhäuser in Bozen, Meran, Brixen und Bruneck wenden:
Bozen: Haus der geschützten Wohnungen: 800 892 828 | Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 276 433.
Meran: Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 014 008.
Brixen: Frauenhaus und Beratungsstelle: 800 601 330.
Bruneck: Geschützte Wohnungen und Beratungsstelle: 800 310 303.
Beratung bietet außerdem die Initiative „Frauen helfen Frauen“ in Bozen: 0471 973 399, Meran: 0473 211 611 und Bruneck: 0474 410 303.
Gewalttätige Männer, die den Weg aus der Aggressionsspirale finden wollen, können sich an die Caritas Männerberatung – Anti-Gewalt-Training wenden: 0471 324649.
Zuerst erschienen in:
FiS - Familie in Südtirol Nr. 1/2019