Am 1. Oktober ist Weltmusiktag. Musik steckt in allen Menschen. Sie gehört sozusagen zur Grundausstattung. Sie begleitet uns durch unseren Alltag und ist der erste Bereich unserer Kultur, der Kindern zugänglich ist. Trotzdem wird sie oft nur am Rande des Bildungsgeschehens thematisiert.
Forscher an der University of California stellten 1993 erstmals die Hypothese auf, dass die Gehirnentwicklung von Kleinkindern durch das Hören von klassischer Musik von Wolfgang Amadeus Mozart maßgeblich beeinflusst werden könne. Einen Tag später war Mozart in Kalifornien ausverkauft. Bestätigt hat sich dieser sogenannte „Mozart-Effekt“ allerdings nie. Muss er auch nicht. Denn dass Musik uns Menschen und vor allem Kinder beeinflusst und bewegt, erleben wir tagtäglich.
Musik schafft Erinnerungen, Emotionen, sie beruhigt, sie belebt, sie beglückt und ist das wohl schönste Geschenk unseres Hörsinns. Dieser ist bereits im Mutterleib sehr gut ausgeprägt, besonders wenn man ihn mit der motorischen Fähigkeit eines Neugeborenen vergleicht. Hier war die Evolution gefragt, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem enormen Gehirnwachstum des Menschen und einer sicheren Geburt. Damit ein Kind also trotz des sehr großen Kopfes gut geboren werden kann, hat sich die Geburt im Verlauf der menschlichen Evolution also um zwei Monate nach vorne verschoben. Ein Neugeborenes ist in seinen motorischen und organischen Funktionen vollkommen auf die elterliche Fürsorge angewiesen, seine Sensorik ist aber schon erstaunlich gut entwickelt.
Musik als menschliche Überlebensstrategie
Bereits drei Monate vor der Geburt nehmen Kinder ihre Umwelt zumindest akustisch wahr. Sie reagieren nachweisbar auf akustische Reize und auch wenn sie noch nichts sehen können, so richten sich die Pupillen beim Hören parallel. Mit der Geburt beginnt die Lautproduktion und während des ersten Lebensjahres lernen Säuglinge beim Erkunden ihrer Umwelt Klänge und Geräusche zu produzieren und sich zu Musik zu bewegen. Diese Faktoren – die Wahrnehmung von Schall, die Vokalisation und die Körperbewegung – bezeichnet die Entwicklungspsychologin Stefanie Stadler Elmer auch als musikalische Grundkompetenzen. Die hohe vokale Lern- und Anpassungsfähigkeit eines Babys gehört demnach zur menschlichen Überlebensstrategie. Säuglinge reagieren dadurch auf die Zuwendung ihrer Bezugspersonen. Diese wiederum erleben dies als belohnend und reagieren ihrerseits. Musikalische Aspekte spielen in dieser frühen Interaktion eine wichtige Rolle, denn Babys reagieren ganz automatisch auf musikalische Anregungen und lenken ihre Aufmerksamkeit darauf. So wird melodisches Sprechen einer monotonen Sprechlage deutlich vorgezogen.
Einzigartiger Zugang zu Kommunikation
Gibt es also angeborene Musikalität? Genetisch könne man nicht davon ausgehen, meint Stadler Elmer in ihrem Buch „Kind und Musik“, denn wie bei jeder komplexen Fähigkeit, spielt wohl auch beim Musizieren die Interaktion zwischen Genen und Umwelt eine Rolle. Es gibt bereits eine Vielzahl an Studien, die aufzeigen, dass sich das Aufwachsen und Lernen in einem musikalischen Umfeld positiv auf die soziale und kognitive Entwicklung von Kindern auswirkt: auf das Lesen, auf den Erwerb einer Zweitsprache, auf den Spracherwerb bei autistischen Kindern, auf das sozial emotionale Wohlbefinden oder auf den sozialen Zusammenhalt. Das kann auch Marion Pichler Kaneider berichten. Im Theaterpädagogischen Zentrum Brixen gibt sie mehrsprachigen Musikunterricht für Kinder zwischen 4 Monaten und 4 Jahren. „Mir geht es um die Förderung des Singens im häuslichen Rahmen und ich möchte Mütter, Väter und Großeltern dazu ermutigen, mit ihren Kleinen zu singen, zu musizieren, Kniereiter zu machen und einfach Spaß zu haben. Musikalität ist allen Babys angeboren und es liegt an uns Erwachsenen, sie nicht verkümmern zu lassen.“ Musik gilt nicht umsonst als jener Bereich der Kultur, der Kindern am frühesten zugänglich ist, schreibt Entwicklungspsychologin Stadler Elmer. Musik dürfe daher kein Bildungsgut für besonders begabte Kinder oder musikaffine Familien sein. Gerade Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, emotional belastete oder mit sozialen Risiken behaftete Kinder fänden über Musik einen Zugang zur Kommunikation.
Ein Feuerwerk im Gehirn
Kinder sind von Musik fasziniert. Sie bewegen sich ganz selbstverständlich zu Klängen und Rhythmen, hüpfen und klatschen, versuchen nachzuahmen. Nebenbei ist sie ein wunderbarer Erziehungshelfer. Ein Zahnputzlied oder Anzieh-Song macht die leidige Diskussion im Badezimmer und vor dem Weg in den Kindergarten gleich viel einfacher. Morgenlied und Gute-Nacht-Lied strukturieren als Rituale den Tag. Musik fördert die Kommunikations und Kooperationsfähigkeit, Flexibilität, Kreativität und das Denken in Zusammenhängen. Sie fördert die Selbstständigkeit, die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Lernbereitschaft und Durchsetzungsvermögen. Trotzdem ist Musikunterricht vielfach ein Stiefkind der schulischen Bildung. Schade, denn kaum auf einem anderen Bereich lassen sich Effekte des Lernens auf das Gehirn so gut beforschen, wie in der Musik, schreibt der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer im Buch „Musik im Kopf“. Wie Forscher der Universität Jena bestätigten, beeinflusst das Spielen von Musik das Gehirnwachstum in jenen Bereichen, die für das Sehen, Hören und Steuern von Bewegungen zuständig sind. Ein nur auf Musik spezialisiertes Hirnareal gibt es allerdings nicht, wie der belgische Neurologe Erik Baeck herausfand – die Aktivitäten beim Musik hören oder selbst musizieren sind weit über das gesamte Gehirn verteilt. Es ist das gesamte Gehirn, das aus einfachen Tonwellen ein ganzes Feuerwerk an Musik entstehen lässt. Während Melodieverarbeitung mehr in der rechten Hirnhälfte geschieht, liegt die Rhythmusverarbeitung in der linken. Beide Hemisphären werden durch Musik aufeinander abgestimmt.
Musik macht den Menschen einzigartig
Als einzige Spezies verfügt der Mensch über zwei lautliche Kommunikationssysteme, nämlich Sprache und Musik, wie der Neurophysiologe und Musiker Eckart Altenmüller betont. Sprache dient ganz klar der Informationsübermittlung, bei der Musik wird es schon komplizierter. Anthropologen heben den Gemeinschaft stiftenden Aspekt hervor. In der Jugendkultur dient Musik zur Identifikation und Abgrenzung und verstärkt die soziale Bindung zu einer Gruppe. Wohlgemerkt nicht nur dort. Man muss nur die Besucher eines Rockkonzertes, jenen einer Oper gegenüberstellen, um zu sehen, wie sehr wir uns an Musik anpassen und sie uns prägt. Vor allem aber vermag Musik auf unvergleichliche Art und Weise Emotionen zu erzeugen. Sie ist allgegenwärtig, zuerst mit Walkman – nun mit jedem Smartphone – haben wir unsere Musik um uns. Musik hat aber durchaus nicht nur positive Wirkungen. Sie kann auch manipulativ wirken. Man denke daran, wie Filmmusik unsere Gefühle steuert oder wie die Werbung sich gezielt der Musik bedient, um uns zum Kauf von Produkten anzuregen oder unsere Einstellung zu einer Marke zu beeinflussen. Werbetreibende und Unterhaltungsindustrie investieren in dem Bereich Millionen. Auch deshalb brauchen Kinder Musik und Musikunterricht, denn auch sie sollten sich der Macht der Klänge bewusst werden.
"Musiklehrer sind Seelenarbeiter"
Molly heißt das Cello, Franz, der Bogen. Wenn Molly und Franz gemeinsam etwas unternehmen, sind auch die britischen Royals dabei, genauer gesagt Charles, Kate und William. So heißen die Finger, mit denen die Kinder der deutschen und italienischen Grundschule in Milland fühlen, wo auf ihrem Instrument die Töne ihren Platz haben. Das ist Musikunterricht bei Irene Troi.
Irene Troi ist klassische Geigerin, keine Pädagogin, keine Wissenschaftlerin. Was sie tut, tut sie aus dem Bauch heraus und der Erfolg gibt ihr Recht. Auch beim Forschungsprojekt „Kinder als Musiker“ der Freien Universität Bozen. 66 Kinder der mittlerweile zweiten und dritten Klassen haben dabei ein Streichinstrument erhalten und bringen sich das Musizieren mit Unterstützung der Brixnerin selbst bei. „Jedes Kind ist sein bester Lehrer, wenn man es sein lässt, wie es ist und nicht zwanghaft in ein Schema zu drängen versucht“, ist Troi überzeugt.
„Musik spricht alle Sinne an und die Kinder sind mit ihrem ganzen Innersten dabei. Sie sprechen singend und singen sprechend.“ Musik kann öffnen und bereichern, kann aber auch viel zerstören. Wo die Fantasie fehlt, klingt Musik nicht – auch wenn sie exakt nach Noten gespielt wird. Dass es für Musik eine reiche Bilderwelt braucht, hat Irene Troi vor allem von ihrem Mentor, dem mittlerweile verstorbenen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt erfahren. Seit 26 Jahren ist sie Mitglied in seinem Orchester „Concentus Musicus“ in Wien. Wie kein Zweiter wusste er die Begeisterung für Musik mit einer einzigartigen Bildersprache an seine Musiker weiterzugeben.
„Wenn Musik und Druck zusammenkommen, ergibt das eine Katastrophe, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Ich erlebe allzu oft, wie Wettbewerbe zwischen Eltern oder Lehrern auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden“, bedauert Troi. Der Violinistin geht es darum, den Kindern das Wesen von Musik zu vermitteln und nicht Musik als Mittel zum Zweck zu sehen. In ihrem Unterricht ist jedes Kind Teil eines großen Puzzles. Fehlt nur ein Teil, hat das Puzzle ein Loch. Jedes Kind ist gleich wertvoll in diesem großen Ganzen und fühlt sich gebraucht. Konkurrenzdenken gibt es nicht – auch keine Disziplinschwierigkeiten.
Derzeit begleitet sie – wie sie selbst es ausdrückt - über 200 junge Seelen zwischen 4 und 30 Jahren. Gemeinsam mit ihrem Mann Stephen Lloyd hat sie das Südtiroler Jugendsymphonie-Orchester „Matteo Gofriller“ aufgebaut und im Auftrag von Alice Harnoncourt noch ein weiteres Jugendsymphonie-Orchester in Attergau (Österreich) gegründet. Außerdem arbeitet sie mit den „Moskitos“, einem Orchester für 6- bis 9-Jährige und den „Peppers“ für 10- bis 15-Jährige. Es ist kaum möglich, sich der Begeisterung zu entziehen, mit der Irene Troi von ihrer Arbeit spricht.
„Kindern das Musizieren beizubringen ist Seelenarbeit. Es braucht Motivation, Wertschätzung, Lob und Verständnis. Kinder sind zwar klein von Gestalt, aber für mich schon 100 Prozent. Daran sollte sich jeder Musiklehrer immer wieder erinnern. Jedes Kind ist einzig!“ Nicht einzigartig wohlbemerkt. Mit dem Suffix „-artig“ kann Troi nichts anfangen, genauso wenig mit dem Wort „üben“. „Es ist ein wahnsinnig wunderbarer Weg, den ich bei meinen Projekten gehe. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen aber immer auf Augenhöhe. Ich gebe meine Erfahrung. Die Kinder geben alles, was sie haben, ihre Ideen, ihre inneren Bilder und Geschichten. Man darf sich nicht einbilden, dass es leicht ist, ein Streichinstrument zu spielen und diese Kinder schaffen das mit einer Selbstverständlichkeit und einer Motivation, die mich jedes Mal staunen lässt.“
In Irene Trois Musikunterricht geht es nicht um den „Fliegenschiss auf dem Papier“, wie sie die Notenblätter nennt – es geht darum, Musik zu fühlen, die fantastischen Bilder, die nur Kinder im Kopf haben können, in Töne und Klänge zu verwandeln. Das ist es, was Kinder und Jugendliche brauchen und woran sie wachsen können.
Text: Valeria von Miller
Aus der FiS - Familie in Südtirol Nr. 2/2018